Erkenne Dich selbst zuerst, dann kannst Du den anderen erkennen

( Mazu jiko o shire, shikoshite ta o Shire )


So lautet die von unserem Karatestilgründer Sensei (= Meister) Funakoshi formulierte vierte Grundregel, welche jeder ernsthaft Karatetreibende sich zu eigen machen sollte, um eines Tages vielleicht dem inneren Kern von Karate Do, dem Weg des Karate,  ein Schrittchen näher gekommen zu sein. 


Der regelmäßige Leser unserer PSV - Vereinsnachrichten erinnert sich vielleicht noch daran, daß wir hier in regelmäßiger Folge versuchen, dem geneigten Interessenten (auch Laien) aufzuzeigen, daß (klassisches) Karate nichts mit Gewalttätigkeit, Schlägereien, Brutalität oder ähnlichem zu tun hat, sondern  hier vielmehr eine viel tiefere Dimension verborgen seiner Entdeckung harrt, welche in zwanzig Regeln von Funakoshi schriftlich niedergelegt wurden und seither von Generation zu Generation weitergereicht werden.

Beim Gang durch einen Buchladen oder Zeitungskiosk kann sich jeder davon überzeugen, daß der Markt für Ratgeberliteratur zum Thema „Selbsterkenntnis“ in den letzten Jahren zunehmend boomt. Ganz zu schweigen von Rezepten für den guten Manager wahlweise seine Untergebenen, Kunden oder gar Konkurrenten zu erkennen und zum eigenen Vorteil zu durchschauen. Geht das etwa in die selbe Richtung, wie von unserer zitierten Karateregel intendiert? 

Nein mitnichten! All diesen „Geheimrezepten“ ist nämlich gemeinsam, daß durch die Anwendung einfachster Rezepte, garniert mit dem eigenem etwas aufgeblasenen Ego, jedes Gegenüber einfach durchschaut werden könne. Daß dies wohl doch nicht so einfach sein kann, wird wohl jeder aus eigener Anschauung und Erfahrung aus seinem Berufs- oder Privatleben nachvollziehen.

Eine vollkommen andere Richtung wird aber in dieser vierten Regel eingeschlagen. Es ist hierbei nämlich von einer klaren zeitlichen und inhaltlichen Reihenfolge die Rede. Der erste Schritt hierbei sei die Selbsterkenntnis. Was heißt es aber sich selbst zu erkennen? Kann ich mich einfach in mein stilles Kämmerchen zurückziehen und in meinem Ohrensessel sitzend mir vornehmen, mich jetzt aber ganz und gar selbst zu erkennen – und wie lange dauert das denn nun eigentlich genau?

In der asiatischen bzw. japanischen Lebenshaltung (aus dessen Kulturbereich ja das KARATE Do entstammt) wird dem einzelnen Moment nicht der selbe Wert eingeräumt wie bei uns im Westen, sondern das Augenmerk wird auf den Weg der Perfektionierung gerichtet. Meisterlichkeit oder die meisterhafte Beherrschung einer Sache oder Kunst ist weniger mit dem Erreichen eines genauen Zeitpunkts als vielmehr mit einer langen Zeitperiode verknüpft, in deren Verlauf die Fähigkeiten  ständig zunehmen und hierdurch das „Produkt“  immer perfekter wird.


Man entscheidet aber selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt für sich: „Jetzt bin ich ein Meister!“ Im Verlauf der Ausbildung und der damit automatisch verknüpften freiwilligen und ständig andauernden Unterordnung unter die Unterweisungen von anderen auf dem Weg schon weiter fortgeschrittenen Lehrern wird das eigene Ego konsequent „klein“ gehalten. Es heißt also nicht: „Seht her wie toll ich das hier kann!“ sondern bestenfalls: „Heute kann ich das so und so gut, aber ich bemühe mich ( und wenn es sein muß, mein restliches Leben) es morgen, übermorgen … noch besser zu können!“


Dieses ständige Streben nach eigener Verbesserung oder Vervollkommnung bei gleichzeitigem Verzicht auf eitle Selbstdarstellung ist der eigentliche (harte!) Weg zur Selbsterkenntnis.  Bei jeder Aktion darf ich mich nicht zuerst fragen, wie diese wohl auf andere wirken könnte und ob sich dadurch mein Ansehen bei meinem Gegenüber verbessert oder verschlechtert, sondern diese ist schlichtweg durchzuführen sofern sie notwendig ist. Dann ist sie aber schnörkellos und konsequent mit dem hierfür notwendigen Einsatz und keinem bisschen mehr (!) durchzuführen.


Natürlich muß ich auch ein klares Bild von meinen tatsächlichen Fähigkeiten und Schwächen entwickeln. Dabei entscheidend ist aber nie die „relative“ Fähigkeit, d. h. im Vergleich zu einem anderen, sondern meine „absolute“ Fähigkeit, d. h. beherrsche ich diese Sache oder Bewegung. Der Vergleich mit anderen führt nämlich sehr schnell wieder auf die Ebene der Profilgewinnung fürs eigene Ego.


Erst wenn mir die oben beschriebene Vorgehensweise zur zweiten Natur geworden ist, gewinne ich die Freiheit, ohne Ablenkung mein Gegenüber zu studieren und möglicherweise sein weiteres Vorhaben zu erahnen und ihm zuvorzukommen. Dies wäre dann die Stufe des Erkennens des Anderen. Dieser Prozess ist sicher nicht leichter als der oben beschriebene der Selbsterkenntnis. Aber Gott sei Dank haben wir ja zu diesem Zeitpunkt schon gelernt, klarer und emotionsfreier intuitiv zu erkennen. 


Wie so oft bei den Regeln für Karate Do handelt es sich nicht nur um „Tipps“ fürs Dojo (= Trainingsraum) sondern um Anweisungen, welche sich auf alle Lebensbereiche anwenden lassen. Darin besteht ihr eigentlicher (pädagogischer) Wert. Davon profitiert jeder ernsthafte Karateka und nicht zuletzt auch seine unmittelbare Umgebung.


Ihr / Euer 

Alexander Mitsanas, 

Trainer der Karateabteilung im PSV


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