Stelle Dir Deine Hände und Füsse als Schwert vor
( hito no teashi o ken to omoe)
So lautet die von unserem Karatestilgründer Sensei (= Meister) Funakoshi formulierte fünfzehnte von insgesamt zwanzig Grundregeln, welche sich jeder ernsthaft Karatetreibende im Laufe seines persönlichen Karateweges zu eigen machen sollte. Im Übrigen wird sie in einer anderen Version auch als „Stelle Dir die Hände und Füsse Deines Gegners als Schwert vor.“ übersetzt. Auf diese Doppeldeutigkeit gehe ich später ein.
Eine zumindest für Karateanfänger schwierige Regel wird hier etabliert, da dieser ja eher von den Schwierigkeiten geplagt wird, seine Arme und Beine nicht zu verknoten oder gar bei schnellen Bewegungen ins Stolpern zu geraten. Und jetzt soll er sich auch noch zusätzlich solch komische Vorstellungen von Schwertern machen? Rätselhafter Ferner Osten!
Zunächst muß man deshalb erklären, daß das Schwert als Gegenstand in Japan eine völlig andere Tradition und Bedeutungsgeschichte hat als bei uns. Am Anfang von Allem steht die mythologische Wurzel, bei der das Schwert Kusanagi als eine von drei Gegenständen den Menschen von der Sonnengöttin Amaterasu als Insigne der Tapferkeit geschenkt wird (- übrigens neben dem Zauberspiegel Yata no Kagami als Insigne der Weisheit und der Perlenkette Yasakani no Magatama als Insigne des Wohlwollens und dem Willen zum rechten Handeln) welche dann unmittelbar zu den Insignien des japanischen Kaiserhauses (Tenno) werden.
Neben dem Zeichen von Tapferkeit erhält es bei den Verfeinerungen des philosophischen Überbaus der Budokünste (dem Weg der Kriegskünste) auch die Bedeutung der Unmittelbarkeit und der unverstellten Entscheidung in einem einzigen Augenblick, was auf die unmittelbare Tödlichkeit des Schwertes zurückzuführen ist, welche keinerlei Unaufmerksamkeit oder Ablenkung duldet.
Ausgehend von dieser Interpretation kommen wir auch gleich zum ersten Teilaspekt dieser hier behandelten Regel. Im Karate zählt nur der Augenblick, weder großartigen Pläne und Strategien für die Zukunft noch ein Festhaltenwollen an Entwicklungen der Vergangenheit haben hier etwas verloren. Dies hat Karate übrigens auch mit Zen gemeinsam, die Gegenwart als einzig Verbindlichem, für die wir auch unseren Geist schärfen müssen. Im Dojo wie im Alltag.
Der zweite Aspekt der Regel bezieht sich auf die Gefährlichkeit des Schwertes und seiner potentiellen Tödlichkeit, was es mit den (wohl vermerkt) gut geschulten Händen und Füßen eines Karatekas gemein hat. Der unverantwortliche Gebrauch einer Waffe im Zustand verminderter Körperkontrolle (z.B. nach Alkohol- oder Drogenmissbrauch) oder mentaler Einschränkung durch Emotionen wie beispielsweise Zorn, Gier oder Eitelkeit, muß unter allen Umständen vermieden werden. Gerade auch wenn die „guten Kumpels“ in fortgeschrittener „geselligen Runde“ lautstark nach einer Probe des Könnens verlangen sollten.
Gleichzeitig ist sie dem Karateka aber auch Auftrag und Verpflichtung seine „Waffen“ durch kontinuierliche Ausbildung zu schärfen und in gebrauchsfähigem Zustand zu halten. Schließlich wissen wir ja aus einer anderen in diesem Rahmen bereits besprochenen Regel (Regel 3), daß Karate stets ein Helfer der Gerechtigkeit zu sein hat.
Die im ersten Abschnitt erwähnte abweichende Übersetzung der Regel, welche die Hände und Füße des Gegners als Schwert bezeichnet, soll unsere Aufmerksamkeit auf die von diesem ausgehende (Lebens-)Gefahr fokussieren, aber natürlich uns nicht zu einem auf die Schlange starrenden Kaninchen machen. Gleichwohl weist sie uns an, uns vor unvorsichtigen Einschätzungen des Gegners oder seiner Strategie und Taktik sowie seiner Fähigkeiten zu hüten, was übrigens auch gerade Anfänger im Training hin und wieder am eigenen Leib (schmerzhaft) erfahren müssen.
Übrigens ist der Kontext des Begriffs „Waffe“ wie er hier von mir gebraucht wird, nicht negativ wertend gemeint, sondern dient als Synonym für ein Werkzeug, dessen eigentlicher Fluch oder Segen vom falschen oder richtigen Gebrauch, nicht aber einfach von dessen faktischen Existenz abhängt. Schließlich müssen wir uns stets darüber klar sein, daß Karate Kampfkunst und nicht (nur) Wellnesssitzung ist.
Mit dieser skizzenartig angerissenen Interpretationshilfe möchte ich Euch in ein hoffentlich gesundes und glückliches Jahr 2018 entlassen, das natürlich auch weiterhin dazu genutzt werden sollte, mit viel Ausdauer an der eigenen Vervollkommnung zu arbeiten.
Ihr / Euer
Alexander Mitsanas,
Trainer der Karateabteilung im PSV